P’yŏngyang liegt erwiesenermaßen weit außerhalb unseres LocSec-Gebietes. (Ehrlich, ich habe extra noch einmal nachgeschaut.) Über den Daumen gepeilt sprechen wir über eine Entfernung von etwa 8000 Kilometern. Und doch kann Berlin sich dort zumindest optisch ganz nahe anfühlen, vorausgesetzt, mensch begibt sich bis zu mehr als hundert Meter unter das Straßenniveau. Denn im Dienst des 1973 eröffneten U-Bahn-Systems in der nordkoreanischen Hauptstadt fahren bis heute ausgemusterte BVG-Züge der Baureihe D (“Dora”).
Die Fahrzeuge wurden in den späten 1990er Jahren aus Berlin angeschafft und stammen aus den Baujahren 1956 bis 1965. Allgemein waren sie zunächst in den Westsektoren auf den Großprofilstrecken unterwegs, die in der Nachkriegszeit umfassend erweitert worden waren. Bereits in den 1980er Jahren wurden zahlreiche Wagen an die Ost-Berliner BVB verkauft, um sie als Aufstocker der in Verlängerung befindlichen Linie E (der heutigen U5 zwischen Alexanderplatz und Hönow) einzusetzen. Nach der Wiedervereinigung rollte “Dora” dann durch eine wieder ungeteilte Stadt, bis ihre Nachfolgerinnen, die Baureihen F, H und IK, sie überwiegend ersetzten. Bis zum Lückenschluss zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz im Jahr 2020 verrichtete sie aber noch auf der Kurzlinie U55 ihren Dienst.
106 Doppeltriebwagen der Baureihe D gelangten über den Zwischenhandel also nach Nordkorea, anschließend zu einer vorherigen Lieferung von 60 Doppeltriebwagen der DDR-Baureihe GI, die inzwischen nur noch oberirdisch als S-Bahn fahren. Einige dieser ursprünglichen, stählernen “Doras” (im Kontrast zur späteren Aluminium-Leichtbauweise) dienen der Instandhaltungstechnik heute zum Ausschlachten. Andere aber wurden in den aktiven Betrieb übernommen und erhielten eine neue mintgrün-rote Lackierung, im Fahrgastraum wurden die obligatorischen Portraits von Kim Il-sung und Kim Jong-il montiert. Ansonsten ist der Berliner Erkennungswert nach wie vor hoch, inklusive der grünen kunstledernen Sitzbanken aus der Zeit vor juristisch kontroversen Antivandalismus-Mustern.
Wie lange das noch so bleibt, ist fraglich, denn seit 2014 lässt Nordkorea die Wagen sukzessive äußerlich und innerlich stark umgestalten. Offiziell kommuniziert wird das Ergebnis als grundständige nationale Eigen- und Neuentwicklung (“Elektrisches Untergrundfahrzeug Nr. 1”). Somit muss mutmaßlich davor gewarnt werden, die vorliegende konterrevolutionäre Sammelsurium-Folge auf Reisen ins Reich des “Obersten Führers” bei sich zu tragen (etwa um die verbliebenen “Doras” zu begutachten, solange sie noch klar als solche erkennbar sind).
Abgenudelte Berliner Omnibusse sind in ihrem zweiten Leben übrigens räumlich vergleichsweise divers unterwegs, von Nordafrika bis an den Ural. Aber das ist eine andere Geschichte.
Mehr Lesestoff
* https://taz.de/U-Bahnfahren-in-Pjoengjang/!5451783/ – Die Führer fahren BVG
* https://www.welt.de/reise/staedtereisen/article113800684/Warum-in-Nordkorea-alte-Berliner-U-Bahnen-fahren.html – Warum in Nordkorea alte Berliner U-Bahnen fahren
* https://www.berliner-linienchronik.de/fuhrpark-u-bahn-gross.html – Berliner Linienchronik: Zur Geschichte der Klein- und Großprofilbaureihen
Maplink
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=39.0108&mlon=125.7175#map=15/39.0108/125.7175 – Station Puhŭng (“Wiedererweckung”) der Chŏllima-Linie, üblicher Anlaufpunkt für Touristen auf den staatlichen Führungen
Bildhaftes und Tönendes
* https://www.youtube.com/watch?v=AWfPTfNElhg – Detaillierte Impressionen der U-Bahn P’yŏngyang, mit zahlreichen Innen- und Außenaufnahmen
* https://www.ardaudiothek.de/episode/100-berlin/die-geheimnisvolle-zeitreise-mit-der-u-bahn-in-pjoengjang/rbb-88-8/96323010/ – Podcast von rbb 88,8: Die geheimnisvolle Zeitreise mit der U-Bahn in P’yŏngyang