#19: Undurchdrückbar
#19: Undurchdrückbar

#19: Undurchdrückbar

Wer schon mal auf einen Legostein getreten ist, weiß: Das zeckt. Aber es gibt noch Unschöneres, das sich – speziell bei unsauberer Homeoffice-Führung – in nichtsahnend-naiv besockte oder bare Füße vergraben kann. Und schuld daran ist eine Stadt in der Uckermark.

Es geht heute nämlich nicht um das Zecken, sondern um die Zwecken. Reiß-selbige. Oder, wie mensch sie an ihrem Ursprungsort auch nennt: Pinnen. Kurze, spitze Nadeln, am Kopfende auf einem breiten, flachen Tellerchen ruhend – eine sehr praktische Erfindung und heute absolut alltäglich. Und dennoch ist das Prinzip erst etwa 120 Jahre alt. 

Die Geschichte der Reißzwecke beginnt mit einem undurchsichtigen Charakter: dem Uhrmachermeister Johann Kirsten aus Lychen. Von ihm kennt mensch heute nur noch wenige Details, nicht einmal die genauen Lebens- und Sterbedaten; im Wesentlichen ist nicht viel mehr überliefert, als dass er ein recht chaotischer Geselle gewesen sein und um das Jahr 1900 eine ebenso unübersichtliche Werkstatt betrieben haben soll. Vergesslich war er nachrichtlich auch, so dass er seine Wände mit Merkzetteln tapezierte und sich regelmäßig mit den Nadeln, die er dafür benutzte, in den Daumen stach. Ein unerfreulicher Zustand, der Kirsten im Jahr 1903 auf die Idee brachte, einen ursprünglichen Entwurf seines Vaters weiterzuentwickeln: nämlich, einen Nagel mithilfe einer Stanze mit einem gewölbten Blechstück zu verbinden. Seinen Fingern tat die Innovation gut, wirtschaftlich konnte Kirsten aber zunächst wenig Nutzen aus ihr ziehen; er verkaufte die Verwertungsrechte noch im selben Jahr an eine örtliche Metallkurzwarenfabrik.

Das war der Durchbruch: Schnell wurde die Reißzwecke, nun patentiert als „Heftzwecke“, zum international begehrten Massenprodukt. Geschäftsführer Otto Lindstedt ließ hauptsächlich von Frauen produzieren, wobei pro Arbeiterin und Tag eine Leistung von 6000 bis 7000 Exemplaren erwartet wurde; die Herstellung erfolgte sowohl in der Fabrik als auch in Heimarbeit. Zu kaufen waren die „Pinnen“ abgepackt in 36er-Schächtelchen, die warben: „Garantiert undurchdrückbar, vollkommen ausschussfrei, genau gleich groß und rund, die Spitze genau gerade stehend.“

Der privatwirtschaftliche Betrieb der Lychener Metallwarenfabrik, die der Volksmund mit den Jahren pro toto als „Die Pinne“ bezeichnete, endete mit dem Jahr 1945. In der nationalsozialistischen Diktatur hatte Otto Lindstedt Gefangene aus dem nahen Konzentrationslager Ravensbrück zur Arbeit gezwungen; um Festnahme und Strafe durch die heranrückende Rote Armee zu entgehen, nahm er sich kurz vor Kriegsende das Leben. Nach Enteignung wurde die Fabrik noch bis 1966 als „VEB (K) Metallwarenfabrik Lychen“ weiter geführt; die DDR ließ dort die Reißzweckenmarke „Lymefa“ herstellen.

Zum Ende des 20. Jahrhunderts war die Reißzwecke in Lychen ein wenig in Vergessenheit geraten. Etwa seit der Jahrtausendwende ist sie aber wieder verstärkt Gegenstand aktiver Erinnerung. In der Stadt existiert seit 2003 ein Reißzweckendenkmal; außerdem wurde ein sogenannter „Pinnenpfad“ eingerichtet, auf dem Tourist*innen die Geschichte Lychens erkunden können. Erklärend helfen sechzehn Dokumentationstafeln in – natürlich – überdimensionierter Reißzweckenform.


Maplinks

* https://www.openstreetmap.org/?mlat=53.21041&mlon=13.31209#map=17/53.21041/13.31209 – Standort von Johann Kirstens Werkstatt
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=53.21081&mlon=13.31060#map=17/53.21081/13.31060 – Ungefähre Position der ehemaligen Metallwarenfabrik
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=53.21922&mlon=13.29209#map=17/53.21922/13.29209 – „Die Pinne“, Reißzweckendenkmal


Mehr Lesestoff

* https://www.moz.de/nachrichten/brandenburg/die-pinne-und-ihr-siegeszug-um-die-welt-49300094.html – Die Pinne und ihr Siegeszug um die Welt
* https://www.deutschlandradio.de/archiv/dlr/sendungen/laenderreport/227106/index.html – Deutschlandradio: Die Geburt der Reißzwecke
* https://lychen.info/stadtrundgang-lychen-mit-audioguide/ – Der „Pinnenpfad“