#20: Krieg und Suppe
#20: Krieg und Suppe

#20: Krieg und Suppe

Der Preußisch-Österreichische Krieg von 1866 gilt Historiker*innen heute als entscheidender Faktor der deutschen Nationalstaatsbildung; er führte zur Entstehung des Norddeutschen Bundes und mittelbar 1871 schließlich des Kaiserreiches. Für Preußen und seine Alliierten zogen 800000 Männer auf das Schlachtfeld, Österreich und der Deutsche Bund mobilisierten 600000 Soldaten. Inzwischen nur noch Zahlen in Geschichtsbüchern, dahinter standen seinerzeit wie in allen Kriegen aber unzählige Einzelschicksale, verbunden mit Tod, Leid und Elend besonders unter den Beteiligten, deren Namen kaum in erhaltenen Aufzeichnungen stehen würden.

Lina Morgenstern, geborene Bauer (1830-1909) waren die Folgen des Krieges für die ohnehin prekär existierende Arbeiter*innenschaft, aber auch das Kleinbürger*innentum bereits bewusst, als er sich gerade erst abzeichnete. Aus einer wohlhabenden Breslauer Unternehmerfamilie stammend, lebte sie seit 1854 mit ihrem Ehemann Theodor (1827-1910) in Berlin und trat dort durch reges soziales Engagement in Erscheinung.

Auch animiert durch ihren jüdischen Glauben und das Gebot der Tzedaka (צְדָקָה, in etwa “Wohltätigkeit”), hatte sie bereits in Breslau einen Unterstützungsverein für bedürftige Schulkinder ins Leben gerufen. In Berlin setzte sie ihre Arbeit, die immer auch die Situation von Frauen in besonderem Fokus hielt, unter dem Eindruck der erzieherischen Überzeugungen Friedrich Fröbels (1782-1852) fort. Auf Fröbel geht das Prinzip des Kindergartens zurück, als bewusst reformpädagogischer Gegenentwurf zu den damals etablierten autoritären „Kleinkinderbewahranstalten“. Im reaktionären Preußen der Nachrevolutionszeit wurde das als Gefahr für Familie und Sitte gesehen, ab 1851 waren Kindergärten dort verboten worden. Lina Morgenstern tat sich 1859 mit Wilhelm Adolf Lette (1799-1868) zusammen, später Gründer des Lette-Vereins zur Förderung weiblicher Berufsbildung, um gegen dieses Gesetz zu lobbyieren. Es entstand der „Berliner Frauen-Verein zur Beförderung der Fröbel’schen Kindergärten“. Bereits ein Jahr später fiel das Verbot, und während Morgensterns Vereinsvorsitz gründeten sich acht Kindergärten und eine Ausbildungseinrichtung für Erzieherinnen. Lina Morgenstern war außerdem bereits als Schriftstellerin, etwa als Autorin von Kindergeschichten und Märchen in Erscheinung getreten; 1861 verfasste sie mit „Das Paradies der Kindheit“ ein vielbeachtetes Fachbuch zur Fröbel-Pädagogik.

Zurück ins Jahr 1866: Der ausbrechende Krieg führte zu enorm steigenden Lebensmittelpreisen und mithin zu einer Versorgungskrise, die die schwächsten Teile der Bevölkerung am empfindlichsten traf. Dienstfähige Männer wurden umfassend zur Armee eingezogen, auf vielen Frauen – in Doppelbelastung zerrissen – und ihren Kindern lastete nun ein noch höherer Subsistenzdruck. In ärmsten Milieus war nicht einmal Geld für Feuerholz übrig. Und auch wenn es die Soldaten, Lebenspartner und Väter in die Heimat zurück schafften, erwartete sie eine ungewisse, oft arbeits- oder gar obdachlose Zukunft – wir befinden uns zeitlich hier noch weit vor jeglicher Sozialgesetzgebung im heutigen Sinn. Lina Morgenstern, selbst fünffache Mutter, nahm die offenkundigen tiefen Missstände nicht nur wahr, sondern wurde ganz konkret tätig. Inspiriert durch bereits seit 1849 bzw. 1851 bestehende Volksküchen in Leipzig und Dresden hob sie den „Verein der Berliner Volksküchen“ aus der Taufe. Die Idee: Mit Hilfe Dutzender ehrenamtlicher Kräfte und auf Selbstkostenprinzip möglichst viele Menschen satt zu machen.

Bereits am 7. Juli 1866, knapp einen Monat nach Kriegsausbruch, eröffnete der Verein die erste Berliner Volksküche in der Charlottenstraße 87. Zuerst wurde das Essen zum Verzehr zu Hause ausgeteilt (der Öffentlichkeit waren größere Ansammlungen verarmter Menschen suspekt); im Jahr 1868 gab es aber schon zehn Volksküchen in Berlin, die auch Sitzgelegenheiten anboten, selbst wenn die Gäste strengen Verhaltensregeln unterworfen waren. Lina Morgenstern – umgangssprachlich inzwischen liebevoll als „Suppen-Lina“ tituliert – nutzte die Erkenntnisse aus der praktischen Arbeit, um ein Kochbuch mit Großküchenrezepten zusammenzustellen, das spätere „Illustrierte Universal-Kochbuch für Gesunde und Kranke“.

Die Volksküchen hatten weit über den Preußisch-Österreichischen Krieg hinaus Bestand, der im August 1866 endete. Im Jahr 1900 gab es in Berlin bereits 15 dieser Einrichtungen. Augusta (1811-1890), Königin von Preußen und spätere deutsche Kaiserin, hatte schon 1868 persönlich die Schirmherrinnenschaft über den Trägerverein erklärt. Langjährige ehrenamtliche Helfer*innen wurden seitdem mit Prämien belohnt, außerdem gab es für sie ein Alterssicherungsprogramm. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 forderte die Ressourcen des Vereins erneut stark; nun betrieb er auch Bahnhofsküchen, um durchreisende Soldaten, Verwundete und Kriegsgefangene zu versorgen. Die Aufgabe wurde erfolgreich erfüllt, die Eindrücke aus dieser Zeit sollen Lina Morgenstern aber mit beeinflusst haben, Jahre danach der Deutschen Friedensgesellschaft beizutreten und bis in deren Vorstand aufzusteigen.

Als Lina Morgenstern im Jahr 1909 79-jährig starb, verlor nicht nur die Friedens-, sondern auch die deutsche und internationale Frauenbewegung eine historische Wegbereiterin. Sie hatte den „Berliner Hausfrauenverein“ gegründet, war dreißig Jahre lang Herausgeberin der „Deutschen Hausfrauenzeitung“, arbeitete im Vorstand des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ und wirkte im „Bund Deutscher Frauenvereine“. 1896 war sie Organisatorin des ersten „Internationalen Frauenkongresses“ in Deutschland.

Lina Morgenstern ruht auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, gemeinsam mit ihrem Mann, in einem Ehrengrab der Stadt Berlin. In Rummelsburg ist eine Straße nach ihr benannt, in Kreuzberg erinnert eine Gemeinschaftsschule an sie.


Maplinks

* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.50543&mlon=13.39170#map=17/52.50543/13.39170 – Ungefährer Standort der ersten Volksküche in Berlin, 1866
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.4977&mlon=13.4820#map=16/52.4977/13.4820 – Lina-Morgenstern-Straße in Rummelsburg
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.49127&mlon=13.38948#map=17/52.49127/13.38948 – Lina-Morgenstern-Gemeinschaftsschule im Bergmannkiez


Mehr Lesestoff

* https://berlingeschichte.de/bms/bmstxt97/9712prod.htm – Zitta Übel: Märchenbücher und Volksküchen
* https://www.deutsche-biographie.de/sfz70744.html – Deutsche Biographie: Morgenstern, Lina
* https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/lina-morgenstern – Digitales Deutsches Frauenarchiv: Lina Morgenstern
* https://books.google.de/books?id=AJlWDwAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false – Das Novembermädchen – Roman von Katrin Tempel


Tönendes

* https://www.jmberlin.de/hoermahl-feinkost-fuer-die-ohren – Jüdisches Museum Berlin: HörMahl. Zu Gast bei Lina Morgenstern (Podcast)
* https://www.youtube.com/watch?v=ycBM64K5Rt0 – Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften: „Grabsteine mit Migrationshintergrund: Lina Morgenstern“