#23: Viel Staub um Agnes
#23: Viel Staub um Agnes

#23: Viel Staub um Agnes

Das tragische Schicksal von Luftfahrtpionier Otto Lilienthal (*1848) ist weithin bekannt: Er verunglückte mit tödlichen Folgen bei der Verwirklichung seines Lebenstraums, als er am 9. August 1896 mit seinem Gleitflieger ins Trudeln geriet und abstürzte. Lilienthal verstarb einen Tag später in Berlin, der Unfall ereignete sich aber 70 Kilometer entfernt im Havelland, auf dem heutigen Flugplatz Stölln/Rhinow.

Das unter ICAO-Code EDOR als Sonderlandeplatz registrierte Gelände verfügt aktuell über eine 840 Meter lange Graslande- und Startbahn und wird von den Betreiber*innen aufgrund Lilienthals mehrjähriger technischer Experimente vor Ort als weltweit ältester Flugplatz beansprucht. Ausschließlich vom Zeitpunkt der ersten aviatischen Versuche dort betrachtet erscheint dies plausibel, erwähnenswert ist aber, dass seine Geschichte nicht unterbrechungsfrei verlief. Von Lilienthals Tod bis 1910 waren dort zunächst keine fliegerischen Aktivitäten mehr überliefert, und auch die Folgen der Weltkriege führten zu zeitweisen Einstellungen des Betriebs. In den 1920er Jahren erlebte der Segelflug dort seine erste Hochphase, nachdem Deutschland der Motorflug durch den Versailler Vertrag verboten worden war. Die Nationalsozialisten errichteten 1936 in Stölln eine paramilitärische Flugschule, deren Anlage im Kriegsverlauf komplett vernichtet wurde; erst ab 1953 – und seitdem kontinuierlich – diente das Areal wieder hauptsächlich der Sportfliegerei.

Seit 1989 verbringt am Platz „Lady Agnes“ ihren Ruhestand – eine ausgemusterte Iljuschin Il-62-Passagiermaschine der DDR-Fluggesellschaft Interflug, benannt nach Otto Lilienthals Ehefrau. Zum Anlass des bevorstehenden hundertsten Jubiläums von Lilienthals erstem erfolgreichen Flug im Jahr 1891 überführten die Piloten Heinz-Dieter Kallbach und Peter Bley den vierstrahligen, mehr als 80 Tonnen schweren Jet von Berlin-Schönefeld auf die eigentlich ungeeignete Piste in Stölln. Das Unterfangen erforderte erhebliche Vorbereitungen und fliegerisches Können: Die Landebahn war viel zu weich und hätte unter sicheren Bedingungen dreimal so lang sein müssen, weshalb acht Tonnen an Gewicht eingespart werden mussten: Die Lösung war der Ausbau der Passagiersitze sowie des Stützfahrwerks und eines Hilfstriebwerks. Die Landung erfolgte mit kleinstmöglicher Geschwindigkeit vor einem Strömungsabriss, bereits in der Luft aktivierter Schubumkehr (!) und hohem Anstellwinkel nach Bodenkontakt. Es entstand eine enorme Staubwolke, die die große Zuschauer*innenmenge am Boden zunächst verunsicherte – die Maschine blieb jedoch unversehrt: Ein Eintrag in das Guinness-Buch der Weltrekorde war der Besatzung sicher. Die Dramatik des Ereignisses wurde in einem kommentierten Video festgehalten, das erfreulicherweise auf YouTube einsehbar ist, den Link gibt es in der Sammlung im Anschluss. Inzwischen ist „Lady Agnes“ ein Museum und verfügt im Heck über eine Außenstelle des örtlichen Standesamtes, so dass auch Hochzeiten im Flugzeug möglich sind.

Bonusfakt: Auch der Fliegeberg in Berlin-Lichterfelde geht im Wortsinn auf Otto Lilienthal zurück. Er ließ den etwa 12 Meter hohen Hügel im Jahr 1894 aufschütten, um eine konstant erhöhte Position für Gleitstarts zu erhalten. Heute ist die Erhebung Teil eines Parks und trägt auf ihrem Scheitelpunkt ein Lilienthal-Denkmal in Form eines Globus.

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