Wenn ich von Berlin-Schöneberg aus zu meiner Ärztin nach Steglitz will, wähle ich die U-Bahn-Linie 10 – ich steige am Kleistpark ein und fahre unter anderem über die Bahnhöfe Dominicusstraße, Rathaus Friedenau und Kaisereiche zur Schlossstraße.
Ach nein, das ist nie geschehen, zumindest nicht in diesem Universum. Natürlich nehme ich den Bus M48 oder M85, denn weder die U10 noch die zugehörigen Bahnhöfe wurden je final realisiert; dies wird mutmaßlich auch nicht mehr passieren. Dass es sie aber einmal möglicherweise gegeben hätte, lässt sich an einigen Stellen des Berliner U-Bahn-Netzes bis heute erkennen.
Beabsichtigt war ursprünglich, dass die U10 von Weißensee über Alexanderplatz und Potsdamer Platz bis Lichterfelde, also in grober Südwest-Nordost-Richtung, durch das Innenstadtgebiet führen würde. Die Überlegungen dazu stammten entsprechend bereits aus der Zeit vor der physischen Teilung Berlins, genauer aus dem Jahr 1955. Der sogenannte und bis heute im Flächennutzungsplan enthaltene „200-Kilometer-Plan“ des West-Berliner Senates sollte die Länge des U-Bahn-Netzes von 90 Kilometer auf besagte Größe erweitern (aktuell liegen wir übrigens bei einer Netzlänge von 146,6 Kilometern). Die grundständig zu erbauende Trasse wurde darin als „Linie F“ geführt; daneben gab es noch die neuen Linien „G“ und „H“, die jeweils in der aktuellen U9 und U7 wiederzuerkennen sind und deren Verwirklichung auch dem Umstand geschuldet war, dass sie vollständig auf dem Gebiet der ehemaligen Westsektoren errichtet werden konnten. Während der Ost-Berliner Magistrat sich den West-Planungen zunächst nicht prinzipiell entgegenstellte, wurden gemeinsame Verkehrsprojekte dieser Art mit dem Mauerbau im Jahr 1961 unmöglich, so dass für den Westen lediglich noch der Streckenbau zwischen Kulturforum und Drakestraße realistisch gewesen wäre. Da U7 und U9 zunächst Priorität hatten, peilte mensch einen Baubeginn für die U10 Mitte der 1980er Jahre an; in Betrieb gehen sollte die Linie dann in den frühen 1990ern. Als Linienfarbe war Schwarz vorgesehen.
Vorbereitend dafür berücksichtigten Architekt:innen und Ingenieur:innen der Bahnhöfe auf U4, U7 und U9 bereits, dass die U10 diese Linien an mehreren Stellen berühren würde. Dies ist der Grund, weshalb beispielsweise der U-Bahnhof Kleistpark eine weitere Bahnsteigebene unter der U7 in Rohbau und Nord-Süd-Richtung besitzt, die normalerweise der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Ebenso am Innsbrucker Platz: Hier existiert eine Bauvorleistung, die einmal der Umsteigebahnhof zwischen U4 und (unter der Stadtautobahn gelegen) U10 werden sollte. Und zwischen Walther-Schreiber-Platz und Rathaus Steglitz ist die Fahrstrecke bereits viergleisig auf zwei Ebenen ausgelegt, wobei die BVG heute für die U9 Gleisabschnitte (und am Rathaus Steglitz sogar den ganzen Bahnsteig) nutzt, die anfangs für die U10 vorgesehen waren.
Woran ist die U10 in West-Berlin letztlich gescheitert? Auch hier waren die Konsequenzen des Eisernen Vorhangs maßgeblich: Im Jahr 1984 übernahm die BVG (West, zu unterscheiden von den BVB-Ost) den S-Bahn-Betrieb von der DDR-Reichsbahn, die bis dahin auch in den Westsektoren zuständig gewesen war. Die Betriebsrechte gingen erst 1994 im wiedervereinigten Deutschland an die Deutsche Bahn AG und letztlich deren Tochter S-Bahn Berlin GmbH zurück. Die Instandsetzung und der Ausbau des sanierungsbedürftigen S-Bahn-Netzes beanspruchten beträchtliche Ressourcen, die für den Bau der U10 wiederum fehlten. Zudem führte die S1 bereits parallel an der geplanten Tunnelführung entlang: Unter DDR-Verwaltung war die S-Bahn aus politischen und Komfortgründen bei den West-Berliner*innen unbeliebt geworden und wurde – unterstützt von der BVG – jahrzehntelang boykottiert. In den 1970er Jahren machte die S-Bahn nur fünf Prozent des Fahrgastaufkommens im Westen aus. Mit der Übernahme durch die BVG änderte sich dies jedoch schnell, so dass die Verkehrsbetriebe sich mit einer Weiterverfolgung der U10 selbst Konkurrenz gemacht hätten. In den 1990er Jahren wurde das Projekt offiziell begraben.
Ganz? Nein. Unbeugsam bleibt der nordöstliche Ast der U10 als veränderte Linienführung der U3, mithin eine Verbindung zwischen Adenauerplatz und Falkenberg über Lützowplatz, Kulturforum, Potsdamer Platz, Alexanderplatz, Weißensee und Hohenschönhausen in der langfristigen Flächenplanung. Bereits 2006 wurde im Regionalbahnhof Potsdamer Platz ein U3-Bahnsteig rohgebaut; unter der U5 im 2020 eröffneten U-Bahnhof Rotes Rathaus befindet sich eine Abstellanlage, die gegebenenfalls zum zusätzlichen Bahnsteig umgerüstet werden kann.
Einen Zeitrahmen gibt es für die neue U3 bisher nicht. Erst einmal ist der Ausbau der derzeitigen Linie, die später also einmal die U1 werden soll, zwischen Krumme Lanke und Mexikoplatz ab 2026 vorrangig. Unter Potsdamer-, Haupt- und Rheinstraße in Schöneberg und Friedenau entlang werden aber aller Voraussicht nach niemals Züge rumpeln.
Mehr Lesestoff
- https://www.berliner-untergrundbahn.de/nz-u10.html – Berliner Untergrundbahn: Die Linie 10 – Berlins Phantomlinie
- http://berliner-u-bahn.info/PDF/200_1955.pdf – Netzspinne: 200-Kilometer-Plan von 1955
- https://ckstadtspaziergaenge.wordpress.com/2019/02/24/die-phantom-u-bahn-die-linie-die-es-nie-gab/ – Clemens Kurz‘ Stadtspaziergänge: Die Phantom-U-Bahn
- https://www.geschichtsspuren.de/artikel/verkehrsgeschichte/164-u10-berlins-unvollendete-u-bahn-linie.html – Geschichtsspuren: U10 – Berlins unvollendete U-Bahn-Linie
- https://www.stadtschnellbahn-berlin.de/geschichte/boykott/index.php – Der S-Bahn-Boykott in West-Berlin von 1961 bis 1984
Bildhaftes und Tönendes
- https://www.youtube.com/watch?v=C1sERV4Vf1U – Privatvideo: Bauvorleistung für die U10 am Innsbrucker Platz