#30: Wie der Schnabel gewachsen ist
#30: Wie der Schnabel gewachsen ist

#30: Wie der Schnabel gewachsen ist

Vergangene Woche habe ich ja – unter anderem – über den Prignitzer Knieperkohl berichtet. Auch die Region um Berlin hat natürlich so ihre rustikalen kulinarischen Eigentümlichkeiten, genannt seien stellvertretend Soleier oder Bollenfleisch mit Quetschkartoffeln. Entenschnabel gehört allerdings nicht dazu – er ist zwar auf jeder Karte der Hauptstadt zu finden, aber auf keinem Teller. Wobei ich nicht jedes hiesige Haute-Cuisine-Etablissement abgeklappert habe, insofern: ohne Gewähr.

Ich schreibe also nicht von Speise-, sondern Landkarten, und bei besagtem anatiden Kranialprotrudens handelt es sich bildlich gesprochen um ein Grenzartefakt zwischen Berlin und Brandenburg. Tatsächlich mit Phantasie an einen Schnabel erinnernd, schiebt sich das Gebiet der brandenburgischen Gemeinde Glienicke/Nordbahn tief in den Berliner Bezirk Reinickendorf hinein und teilt dort Frohnau im Norden von Hermsdorf im Süden. Etwa 600 Meter ist der offiziell als „Sandkrug“ firmierende Vorsprung des Glienicker Areals lang, dabei durchschnittlich nur um die 100 Meter breit. Erschlossen ist er über eine von Einzelprivathäusern gesäumte Stichstraße, seine Entstehung begründete sich darin, dass die verantwortliche „Berliner Terrain-Centrale“ im Planungs- und Eröffnungsvorfeld der „Gartenstadt Frohnau“ im Jahr 1910 diverse umliegende Gebiete der Junkersfamilie von Veltheim erworben hatte. Nach der Bildung Groß-Berlins 1920 wechselte Frohnau vom Brandenburger Landkreis Niederbarnim verwaltungsrechtlich zur Hauptstadt über, Glienicke – und damit der „Entenschnabel“ – verblieb jedoch im Flächenland.

Heute (wie zu Zeiten seines Zustandekommens) spielt der ungewöhnliche Grenzverlauf im Alltag der Anwohnenden kaum eine praktische Rolle, sondern gilt als unwesentliches administratives Kuriosum, das allenfalls als Aufhänger für ein mensanisches Sammelsurium taugt. Während der deutschen Teilung und erst recht nach der Errichtung der Berliner Mauer 1961 wurde der „Entenschnabel“ aus Sicht der DDR jedoch als Hochsicherheitszone wahrgenommen und auch so behandelt: Die schmalen örtlichen Gegebenheiten verhinderten, dass die Grenzbefestigungsanlagen dort regulär umfassend ausgebaut werden konnten. Sie bestanden vorwiegend aus dem bekannten vorderen Sperrelement, das landläufig und vor allem im Westen mit „der Mauer“ assoziiert wird. Die Funktion der Hinterlandmauer nahm ein elektrifizierter Gitterzaun ein, der direkt an die Grundstücke „Am Sandkrug“ anschloss; der Sicherungsstreifen hatte somit eine Breite von höchstens vier Metern. Eine weitere Besonderheit der Topographie: Die Wohnhäuser auf der West-Berliner/Frohnauer Seite der Mauer lagen bzw. liegen auf einer bis zu 25 Meter erhöhten Binnendüne, die es erlaubte, in das Gebiet der DDR hineinzuschauen und auch durch Zuruf zu kommunizieren.

Alles in allem ein Zustand, der das Ministerium für Staatssicherheit maximal inkommodierte – über die Mauerjahre hinweg wurde der Zugang zum „Entenschnabel“ immer stärker reguliert, es wurden Umsiedlungen „unzuverlässiger“ Bewohner:innen veranlasst und leerstehende Häuser mit Spionageanlagen ausgestattet. Aus dem „Entenschnabel“ selbst sind tatsächlich keine erfolgreichen Fluchten nach West-Berlin verzeichnet. Drei Gruppen von DDR-Bürger:innen gelang es aber noch relativ kurz nach dem Mauerbau – in den Jahren 1962 und 1963 – sich im Sandboden von nahen Ausgangspunkten in Glienicke nach Frohnau und Hermsdorf durchzugraben. Etwa 50 Personen erreichten auf diese Weise insgesamt den Westen.

Von den Grenzanlagen sind inzwischen nur noch Fundamente und versprengte Hinterlassenschaften wie Kabelreste und Zaunpfosten übrig. Die Frontmauer zur Westseite wurde bereits 1991 entfernt. An der Einfahrt „Am Sandkrug“ von der Bundesstraße 96 aus finden sich Informationsstelen, die auf die historische Bedeutung des Gebiets hinweisen. Auch gibt es etwas nördlich, an den Einmündungen der Oranienburger Chaussee zu Edelhofdamm sowie Nohlstraße, Denkmäler für die Todesopfer der Berliner Teilung. Insbesondere wird dort erinnert an Herbert Bauer (West-Berliner Polizist, 1952 bei einem Grenzvorfall getötet), Friedhelm Ehrlich (DDR-Grenzsoldat, 1970 von einem Dienstkollegen erschossen) und Michael Bittner (1986 auf der Flucht erschossen).

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