Den Kleistpark in Berlin-Schöneberg lieben wir als beschauliche grüne Oase zum Joggen, Spazierengehen, Hunde ausführen, sommerlichen Picknicken und allgemeinen Verschnaufen, nahe den lebhaften Pallas-, Winterfeldt-, Barbarossa- und Akazienkiezen gelegen. Bis ins Jahr 1904 befand sich dort der im 17. Jahrhundert von Johann Sigismund Elsholtz (siehe Sammelsurium #16) mit begründete Botanische Garten der Friedrich-Wilhelms-Universität; über die folgenden Jahre wurde die Anlage aus Platz- und phytohygienischen Erwägungen heraus sukzessive an ihren aktuellen Standort in Lichterfelde-West verlegt. Dass wir es zwischen Elßholz- und Potsdamer Straße mit einer Erholungsfläche zu tun haben, war keine zwangsläufig anschließende Entwicklung. Im Gegenteil war einst eine deutlich aktivere Nachnutzung für das Gebiet vorgesehen: Als Sportpark. Bis zu einem schicksalhaften 18. Juli 1909.
An diesem warmen und heiteren Sonntag hatten sich an die 6000 Zuschauer*innen vor Ort eingefunden, um die Eröffnungsveranstaltung der neuen Radrennbahn „Alter Botanischer Garten“ zu verfolgen. Der nicht überdachte Ovalkurs war 333,3 Meter lang, als Alleinstellungsmerkmal aus Holz statt Zement gefertigt und wurde erst kurz zuvor im Schwung einer allgemeinen Radsportbegeisterung in der Bevölkerung fertiggestellt. Im selben Jahr war schon in einer Ausstellungshalle nahe des Zoologischen Gartens (etwa am jetzigen Standort des Zoo-Palast-Kinos) das erste Berliner Sechstagerennen aus der Taufe gehoben worden, was großen Zuspruch der zeitgenössischen Sportfreund*innen gefunden hatte. Von der Freiluft-Holzkonstruktion im heutigen Kleistpark versprach mensch sich weniger Reibung und einen Geschwindigkeitsgewinn, was besonders für das Einweihungsrennen relevant war: Dabei handelte es sich nämlich um ein Steherrennen. Bei dieser Wettbewerbsform fuhren die Teilnehmer (der Radsport war damals eine Männerdomäne) hinter Schrittmachern auf Motorrädern her, die ihnen Windschatten spendeten und ein potentielles Tempo von mehr als 100 Stundenkilometern ermöglichten.
Das Rennen, zu dem durchaus prominente Vertreter ihrer Epoche angetreten waren, verlief für die ersten zwanzig Kilometer ohne Zwischenfälle; etwa gegen 17.15 Uhr jedoch verlor der motorisierte Assistent Werner Krüger als Schrittmacher des niederländischen Teilnehmers John Stol beim Überholvorgang das Gleichgewicht und stürzte. Die Gründe bleiben ungeklärt, die Vermutungen jedoch gehen in Richtung eines geplatzten Reifens. Emil Borchardt, nachfolgender Schrittmacher des Schweizers Fritz Ryser, scheiterte bei einem Ausweichversuch und ebenso daran, die Kontrolle über seine Maschine zu behalten. Er wurde abgeworfen, die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten. Das führerlos entfesselte Motorrad raste in der Nordostkurve zwischen Pallasstraße und Potsdamer Straße an der Seitenbegrenzung entlang und flog anschließend mit Wucht in die Publikumsmenge. Sein Benzintank explodierte, sechs Menschen starben auf der Stelle. Mehr als vierzig Personen wurden schwer verletzt, drei davon erlagen ihren erheblichen Brandverletzungen im Nachhinein.
Das Ereignis ging als „Schwarzer Sonntag von Berlin“ in die Sportgeschichte ein, bis dato gibt es im deutschen Radsport keinen Vorfall mit vergleichbarer Anzahl an Opfern. Seine juristische und öffentliche Nachbereitung war hoch emotional und kontrovers, kritisiert wurde die Abwesenheit von Schutzbarrieren, medizinischem Notfallpersonal und geeigneten Löschvorrichtungen; auch gab es Stimmen, die Bahn sei mit acht Metern Breite für Überholvorgänge bei den Zielgeschwindigkeiten gefährlich schmal ausgelegt gewesen. Als unmittelbare Konsequenz wurden Steherrennen in Preußen zunächst verboten, später dann nur unter Auflagen wieder zugelassen. Eine Opferentschädigung fand nach Abschluss der Untersuchungen, unter Berufung der beteiligten Gutachter auf höhere Gewalt, dennoch nicht statt. Entsprechend gab es auch keine strafrechtliche Verfolgung, weder gegen die Schrittmacher noch gegen Beamte der Baupolizei, die die Strecke abgenommen hatten. Allerdings hatten die Anwohner*innen der Rennbahn, die schon vor deren Eröffnung gegen Benzingestank und Lärm protestiert hatten, nun das ultimative Argument für deren zügige Schließung in die Hand bekommen – auch befördert dadurch, dass das Gelände des Sportparks nicht sofort nach dem Unglück geräumt wurde und sich in den folgenden Tagen Schaulustige an seinen Toren sammelten. Wie es die Vossische Zeitung vom 20. Juli 1909 ausdrückte:
„Vor dem Botanischen Garten aber, der jetzt den Jahrmarktsnamen ‚White City‘ führt und in dem sich selbst Sonntag abend kurz nach dem gräßlichen Unglück ganz unbekümmert um die furchtbare Ernte des Todes der s k a n d a l ö s e s t e J a h r m a r k t s k l i m b i m breit machte, staute sich auch gestern noch den ganzen Tag eine dichtgedrängte Volksmenge, die von dem Gittertor nicht forzubringen [sic!] war.“.
Tatsächlich wurde die Bahn bereits im Frühjahr 1910 demontiert, gemeinsam mit allen anderen Sportanlagen vor Ort: Es entstand 1911 der Kleistpark, wie wir ihn im Wesentlichen kennen, ab 1913 ergänzt durch das Kammergericht an seiner Westseite. Teile der Rennbahn wurden als „Olympiabahn“ in Plötzensee wiederverwertet, die bis zu ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg in Betrieb blieb. Nicht weit vom Kleistpark entfernt wurde ebenfalls 1910 der Sportpalast fertiggestellt, ab 1911 regelmäßiger Austragungsort der Sechstagerennen, seit 1973 seinerseits wieder aus dem Stadtbild verschwunden und durch das Pallasseum überbaut.
Steherrennen gibt es nach wie vor, seit 1978 sind keine Todesfälle mehr zu beklagen gewesen – einerseits durch technische Fortschritte, zum anderen findet diese Rennform inzwischen vergleichsweise selten statt.
Maplinks
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.4923&mlon=13.3585#map=15/52.4923/13.3585 – Kleistpark in Berlin-Schöneberg
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.4541&mlon=13.3052#map=15/52.4541/13.3052 – Botanischer Garten in Berlin-Lichterfelde
Mehr Lesestoff
* https://dfg-viewer.de/show?tx_dlf%5Bdouble%5D=0&tx_dlf%5Bid%5D=https%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19090720-0-0-0-0.xml&tx_dlf%5Bpage%5D=4 – Zum Unglück auf der Radrennbahn im alten Botanischen Garten. Vossische Zeitung vom 20.7.1909, S. 4 (Scan der Originalausgabe bei der Berliner Staatsbibliothek)
* https://www.tagesspiegel.de/berlin/fraktur-berlin-bilder-aus-der-kaiserzeit-feuer-auf-der-rennbahn/10207326.html – Tagesspiegel (22.7.2014): Feuer auf der Rennbahn
* https://www.vereinsleben.de/neuigkeiten/5/2019-07-16-der-schwarze-sonntag-von-berlin – Vereinsleben.de: Der „Schwarze Sonntag“ von Berlin
* https://www.was-war-wann.de/1900/1900/sportjahr-1909.html – Was war wann? Das Sportjahr 1909 – Die Berliner Rennbahnkatastrophe