#39: Wahn und Wiedergutmachung
#39: Wahn und Wiedergutmachung

#39: Wahn und Wiedergutmachung

Am Montag spukt’s wieder, auch in Berlin und Brandenburg: Kleine wie große Vampire, Werwölfe, Gespenster und Gerippe huschen durch die Straßen, auf der Jagd nach (wie auch immer definierter) Beute. Dass derlei okkult-dämonische Fabelgestalten heute so spielerisch zelebriert und kommerziell ausgeschlachtet werden, ist wohl als aufklärungs-fußender zivilisatorischer Fortschritt zu verbuchen, trotz verbreiteten Kulturpessimismus‘ gegenüber aus den USA nach Europa re-importierten Traditionen.

Denn natürlich gab es auch in unserer Region eine Epoche, in der es lebensbedrohlich war, etwa als Hexe oder Zauberer wahrgenommen zu werden. Um sich dem Verdacht auszusetzen, mit dem Satan im Bunde zu stehen, brauchte es oft nicht mehr als einige missgünstige Nachbar*innen, mit denen mensch ohnehin im Streit über Triviales gelegen haben mochte. Entgegen landläufiger Annahmen war die Hexenverfolgung dabei kein Phänomen des Mittelalters, sondern der frühen Neuzeit: Der Gipfel derartiger Prozesse in der Mark Brandenburg lag um Beginn bis Mitte des 17. Jahrhunderts, mit einem starken Abebben nach dem Dreißigjährigen Krieg. In der heute Sachsen-Anhalt zugehörigen Altmark wurde der letzte Scheiterhaufen dennoch erst im Jahr 1698 entzündet, über die vorangegangenen zwei Jahrhunderte beschäftigten sich die Gerichte dort mit mehr als 200 Anklagen. In der Prignitz wurden zwischen 1509 und 1686 insgesamt 268 Verfahren aufgezeichnet, die Uckermark beendete ihre Verfolgungen im Jahr 1671 nach 270 Prozessen, in der Mittelmark waren es 150. Im Jahr 1714 machte Preußenkönig und Kurfürst Friedrich Wilhelm I. dem Grauen dann ein klares juristisches Ende: Er behielt sich vor, Todesurteilen oder Folterungen in Hexerei-Angelegenheiten persönlich zustimmen zu müssen, was auch unter seinen Nachfolgern auf dem Thron nie mehr geschah und einem Verbot von Hexenprozessen gleichkam.

Im Jahr 2017 entschied die Bernauer Stadtverordnetenversammlung als erste Gemeinde in Brandenburg, 28 Menschen öffentlich zu rehabilitieren, die zwischen den Jahren 1536 und 1658 dort religiös-wahnhaften Justizmorden zum Opfer gefallen waren. Die Namen der 25 Frauen und drei Männer wurden auf Initiative der Künstlerin Annelie Grund bereits 2005 auf einem Mahnmal verewigt, das am ehemaligen städtischen Henkerhaus zu finden ist. Rostiger Stahl und große Glasscherben, die an Flügel erinnern, sollen einen Kontrast zwischen Leid und Hoffnung verbildlichen. Wer die Liste als Inschrift näher in Augenschein nimmt, bemerkt eine deutliche Häufung von Todesdaten zwischen 1617 und 1621, als mit Stadtsekretär Thomas Beling ein besonders blutrünstiger Ankläger amtierte. Ein Bernauer Bäckersehepaar wurde in dieser Zeit etwa allein dafür verbrannt, dass seine Brötchen zu gut schmeckten (!), was sicherlich nur mit Magie zu bewerkstelligen gewesen sein konnte. Durchaus richtete sich der Irrsinn wiederholt gegen ganze Familien, so wurde die 72-jährige Dorothea „Orthie“ Meermann im Jahr 1619 wegen mutmaßlicher Schadenszauberei zu Tode gefoltert – bereits ihre Mutter und Großmutter waren in früheren Jahrzehnten wegen Hexerei hingerichtet worden.

Die Rehabilitation soll ein „Akt im Geiste der Erinnerung und Versöhnung“ sein, betont die Gemeindevertretung von Bernau in ihrem Beschluss. Vorangegangen war ein – ebenfalls von Annelie Grund angestoßener – intensiver Austausch zwischen Expert*innen aus Geschichtswissenschaft, Bildungswesen, Theologie und Politik, aber auch interessierten Bürger*innen, der ein aus den Augen verlorenes Thema auf angemessene Weise zurück ins Bewusstsein geholt hat, bis hinein in die örtlichen Schulen. Die Initiative wurde Vorbild für ähnliche Anstrengungen in mehr als 50 weiteren Kommunen.

Auch im 21. Jahrhundert werden Menschen noch in mehr als 40 Staaten opportunistisch oder systematisch wegen angeblicher magischer Umtriebe vertrieben, misshandelt und getötet; nach wie vor fallen den Verfolgungen ganz überwiegend Frauen zum Opfer.


Maplink

* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.67968&mlon=13.58515#map=19/52.67968/13.58515 – Denkmal für die Opfer der Hexenverfolgung am Bernauer Henkerhaus


Mehr Lesestoff

* https://www.tagesspiegel.de/berlin/bernau-rehabilitiert-opfer-der-hexenverfolgung-3823540.html – Tagesspiegel (12.4.2017): Bernau rehabilitiert Opfer der Hexenverfolgung

* https://www.sueddeutsche.de/politik/hexenprozesse-unschuldig-1.3462602 – Süddeutsche Zeitung (12.4.2017): Hexenprozesse: Unschuldig

* https://www.deutschlandfunk.de/rehabilitierung-spaete-gerechtigkeit-fuer-die-hexen-von-100.html – Deutschlandfunk (27.5.2017): Späte Gerechtigkeit für die „Hexen“ von Bernau

* https://www.deutschlandfunkkultur.de/moderne-hexenverfolgung-vertreibung-folter-und-mord-100.html – Deutschlandfunk Kultur (30.4.2021): Moderne Hexenverfolgung – Vertreibung, Folter und Mord

* https://www.brandenburgikon.net/index.php/de/sachlexikon/hexenprozesse – Brandenburgikon: Hexenprozesse


Bildhaftes und Tönendes

* https://www.youtube.com/watch?v=IkccNhdi4co – MDR DOK: Du sollst brennen! – Der Brocken und die Hexenverfolgungen an der Elbe