#42: Magdeburg Annie
#42: Magdeburg Annie

#42: Magdeburg Annie

„Achtung! Sechs Acht Vier Null Drei Trennung Drei Fünnef! Eins Acht Vier Null Fünnef! Vier Null Fünnef Sieben Sechs! …“

Freund*innen des Kurzwellen-Radioempfangs dürfte dies bekannt vorkommen: Auf Frequenzen abseits des Mainstreams finden sich mit wechselnder Regelmäßigkeit Übertragungen unbekannter Herkunft, die im Wesentlichen aus Zahlen- oder auch Buchstabenkolonnen bestehen. Verlesen werden sie von roboterähnlich-geisterhaften Stimmen aus dem Sprachgenerator, umrahmt von oft bizarr anmutenden Ident-Klängen. Mal findet der Spuk auf Russisch, mal auf Spanisch, Englisch oder Mandarin statt und kann schon nach wenigen Minuten wieder vorüber sein. Die deutschsprachige Nachricht, aus der der einleitende Auszug stammt, wurde am 21. März 1986 von einem interessierten Zuhörer mitgeschrieben. Die Öffentlichkeit ist aber natürlich nicht der eigentliche Adressat dieser Zahlensender. Die naheliegende Vermutung ist richtig: Auf diese Weise werden Mitarbeiter*innen verschiedener Geheimdienste weltweit mit verschlüsselten Anweisungen versorgt. So – im Fall der Übertragung von 1986 – auch Agent*innen der DDR-Auslandsaufklärung.

Insgesamt ist heute bekannt, dass die DDR vier Zahlensender betrieb, die die ENIGMA2000-Vereinigung von Kurzwellenamateur*innen in ihrem Katalog inzwischen als G03, G08, G20 und G21 indexiert hat. Darüber, was im Detail kommuniziert wurde, ist auch im Jahr 2022 noch überraschend wenig herauszufinden; öffentlich zugänglicher sind aber Informationen über Sende- und Produktionsanlagen. Von G03 und G08 weiß mensch, dass beide Zahlensender ihre administrative und technische Basis in Berlin und Brandenburg hatten.

G03 war ein Sender des NVA-Militärnachrichtendienstes auf 3258, 5410 und 6410 Kilohertz. Anfänglich fanden die Übertragungen aus Bernau bei Berlin statt, 1961 gab es einen Wechsel in ein Waldstück bei Senftenhütte nahe Angermünde. Das Funkamt der NVA, aus dem die Nachrichten vorbereitet und eingespeist wurden, war wiederum in Dahlwitz-Hoppegarten ansässig. Charakteristisch für G03 waren acht ab- und aufsteigende Gongsignale zur Einleitung einer Übertragung; die für die Nachricht verwendete weibliche Automatenstimme hatte einen schneidend-militärischen Klang, der Funktion des Senders entsprechend. Sie erlosch am 23. Mai 1990 auf Dauer (fast, denn der ungarische Geheimdienst verwendete den Sprachgenerator noch bis 2005). Die letzte Nachricht von G03 bestand aus einem Chor betrunken klingender Männerstimmen, die „Alle meine Entchen“ sangen. Ob „Köpfchen in das Wasser“ als Befehl an die verbleibenden Agent*innen zu verstehen war, „abzutauchen“, kann bis heute nur gemutmaßt werden.

Die Stimme von G08 wurde im allgemeinen als lieblicher wahrgenommen – sie bekam von westlichen Funkamateur*innen sogar einen Spitznamen verliehen. Magdeburg Annie wurde die Dame aus dem Äther getauft, nachdem Peilungen der britischen Armee den Sender irgendwo im Jerichower Land verortet hatten. Nach aktuellem Wissensstand muss mensch da aber von „verpeilt“ reden, denn Magdeburg Annie verschaffte sich tatsächlich Gehör von Zeesen bei Königs Wusterhausen aus – wo bereits in der NS-Zeit der Deutschlandsender II seine Anlagen hatte (Sammelsurium #25). Es handelte sich bei G08 um einen Sender des Ministeriums für Staatssicherheit/Hauptverwaltung Aufklärung, der bereits in den 1950er Jahren zu hören war und in seiner Geschichte die Frequenzen 3217, 3820, 5820 und 6453 Kilohertz nutzte. Unter anderem Rainer Rupp alias Topas, DDR-Spitzenagent bei der NATO,soll über G08 seine Befehle erhalten haben. Gegeben wurden sie aus der MfS-Zentrale in der Berliner Normannenstraße, mit einem Umweg über ein Aufnahmestudio in Wernsdorf, wo die Berliner Zahlenreihen anfänglich verlesen, später mit Tonbandmaschinen und schließlich digital in sendefähige Audiodokumente überführt wurden. Auch G08 verstummte im Lauf des Jahres 1990 zunehmend, die letzte Mitschrift entstand am 9. Mai des Jahres. Magdeburg Annie an sich wurde klanglich aber bis 2021 noch auf einem Zahlensender des russischen Militärgeheimdienstes GRU eingesetzt. Seitdem gibt es auf Kurzwelle keine deutschsprachigen Zahlensender mehr.


Mehr Lesestoff

* https://wiki.utdx.de/index.php?title=G03 – UTDX-Wiki: Zahlensender G03, mit Tonbeispielen

* https://wiki.utdx.de/index.php?title=G08 – UTDX-Wiki: Zahlensender G08, mit Tonbeispielen

* https://wiki.utdx.de/index.php?title=Liste_der_Zahlensender – UTDX-Wiki: Liste der Zahlensender

* https://priyom.org/ – Priyom.org: Freies Forschungsprojekt zu Zahlensendern

* https://wiki.utdx.de/index.php?title=ENIGMA2000 – UTDX-Wiki: ENIGMA2000 (European Numbers Information Gathering and Monitoring Association)

Maplinks

* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.9423&mlon=13.8495#map=15/52.9423/13.8495 – Senderstandort von G03 ab 1961

* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.2741&mlon=13.6161#map=15/52.2741/13.6161 – Senderstandort von G08 in Zeesen