Oranienburg im brandenburgischen Landkreis Oberhavel hält einen inoffiziellen Titel, um den sich Gemeinden vermutlich nicht reißen: Es gilt als die wohl radioaktiv am stärksten belastete Stadt der Bundesrepublik. Dies nicht etwa aus natürlichen Ursachen wie durch den Erdboden diffundierendes Radon, sondern menschengemacht als Konsequenz des Zweiten Weltkrieges.
Für das NS-Regime hatte Oranienburg eine Reihe von Funktionen: Es war Standort des Konzentrationslagers Sachsenhausen und der Heinkel-Flugzeugwerke, aber auch ein Schwerpunkt der Uranverarbeitung zu militärischen Zwecken. Eine Schlüsselrolle spielte hier die physikalisch-chemisch-pharmazeutische Auer-Gesellschaft, ursprünglich als Hersteller von Glühstrümpfen aus Thoriumdioxid und Cer(IV)-Oxid für Gaslampen entstanden und erster Inhaber des Warenzeichens Osram. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten waren ihre jüdischen Gesellschafter enteignet und das Unternehmen der Degussa angeschlossen worden. Als Spezialist im Umgang mit radioaktiven Stoffen stellten die Auerwerke Leuchtfarben und – nach heutigen Maßstäben irrwitzig – mit dem Produkt Doramad eine thoriumhaltige Zahnpasta her. Politische Priorität hatte während des Krieges aber die Erzeugung hochreinen Uranoxids und elementaren Urans für das deutsche Kernwaffenprogramm. Als Basis diente Erz, das hauptsächlich im Sudetenland und in Belgien ausgebeutet wurde.
In der Endphase des Krieges, am 15. März 1945, bombardierte die US-Luftwaffe Oranienburg mit mehr als 5000 Sprengkörpern, was die Stadt zu etwa 70 Prozent und die Auerwerke komplett zerstörte. Den Nachrichtendiensten war wohlbekannt, was dort hergestellt wurde: Historiker*innen zufolge wollten die USA im Bewusstsein der bevorstehenden deutschen Niederlage maßgeblich verhindern, dass das Uranoxid in die Hände der voranrückenden Roten Armee fiele. Vollständig vernichtet wurde auch das Unternehmen Goetschke AG, das ebenfalls Thorium-Glühstrümpfe produzierte. Der Angriff war mit Flugblättern angekündigt worden: Die Alliierten wussten, dass die Auerwerke zur Produktion von Gasmasken ein Außenlager Sachsenhausens betrieben, in dem Zwangsarbeiter*innen aus dem Stammlager und dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gefangen gehalten wurden. Die SS verbot den Häftlingen jedoch, ihre Posten zu verlassen, Schutzräume existierten nicht. An die Toten wird heute vor Ort mit einer Gedenktafel an einem Findling erinnert.
Zunächst durch die Explosionen, später durch Aufräumarbeiten wurden radioaktive Nuklide über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Aufgrund der langen Halbwertzeiten der fraglichen Isotope von Uran und Thorium und deren Zerfallsprodukte ist das Kontaminationsproblem (vor allem durch Alphastrahler) bis heute aktuell und besonders messbar nahe der ehemaligen Fabrikstätten. Ein Teil des einstigen Areals der Firma Goetschke südlich der Walther-Bothe-Straße bleibt mit Warnschildern eingezäunt. Möglicherweise geschieht dies nicht nur wegen der Strahlung, sondern auch aufgrund des Umstandes, dass immer noch um die 300 Blindgänger in den Oranienburger Stadtgrenzen vermutet werden. Andere Gebiete wurden durch Überdeckung mit nicht-kontaminierter Erde saniert. Bei privaten Versuchsmessungen auf dem früheren Gelände der Auerwerke westlich der Bahnstrecke wurden 2019 in unmittelbarer Bodennähe noch Dosisleistungen von um die 1,5 Mikrosievert pro Stunde registriert – die durchschnittliche natürliche Strahlenbelastung in Deutschland wird auf 0,24 Mikrosievert pro Stunde beziffert. Östlich der Bahn, an der Mainzer Straße, musste im Jahr 1996 ein Sportplatz wegen deutlich erhöhter Werte gesperrt werden. Die Flächen bleiben dauerhaft unter der Überwachung des Brandenburger Landesamtes für Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Gesundheit, das nach Maßgabe des Strahlenschutzvorsorgegesetzes regelmäßige Messungen durchführt.
Mehr Lesestoff
* https://www.tagesspiegel.de/potsdam/brandenburg/strahlende-spuren-radioaktives-aus-der-streusandbuchse-775594.html – Tagesspiegel (26.3.2001): Radioaktives aus der Streusandbüchse
* http://opengeiger.de/GeigerCaching/DokuOranien.pdf – Bernd Laquai – Oranienburg: Die Radioaktivität und der Krieg
* https://www.mta-r.de/blog/doramad-zahncreme-fuer-strahlend-weisse-zaehne/ – mta-r.de (8.3.2019): Radioaktive Zahncreme. Doramad – für „strahlend“ weiße Zähne.
* https://www.bpb.de/themen/holocaust/erinnerungsorte/503270/denkmal-fuer-das-kz-aussenlager-auer-werke-in-oranienburg/ – Bundeszentrale für politische Bildung: Denkmal für das KZ-Außenlager Auer-Werke in Oranienburg
* http://www.sachsenhausen-projekte.de/baracken-zwangsarbeiter-auerwerke/ – Sachsenhausen-Projekte: Ehemaliges Zwangsarbeiterinnen-Lager der Auer-Werke
Maplink
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.7434&mlon=13.2219#map=15/52.7434/13.2219 – Ungefähre frühere Position der Produktionsstätten der Goetschke AG in Oranienburg
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.7505&mlon=13.2480#map=16/52.7505/13.2480 – Ungefähre ehemalige Position der Auerwerke, westlich der Bahnstrecke
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.7498&mlon=13.2566#map=15/52.7498/13.2566 – Ungefähre ehemalige Position der Auerwerke, östlich der Bahnstrecke
* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.7434&mlon=13.2219#map=17/52.75053/13.25531 – Position des KZ-Außenlagers Sachsenhausen-Auerwerke
Bildhaftes und Tönendes
* https://www.youtube.com/watch?v=OEQCh0-PCIo – Jürgen Böhringer: Radioaktivität in Oranienburg
* https://www.youtube.com/watch?v=PHtaAVAmNzM – allRadioactive: Why is Oranienburg the most radioactive city in Germany?