#24: Anders als die andern
#24: Anders als die andern

#24: Anders als die andern

In Berlin-Schöneberg findet an diesem Wochenende das 28. Lesbisch-Schwule Stadtfest statt – nach drei Jahren Pandemiepause feiern die LGBTQIA*Community und ihre Freund*innen wieder in alter Pracht rund um die Motzstraße und die sechs Themenbühnen mit Musik- und Showacts. Eine Woche später wird sich die Parade zum Christopher Street Day als Höhepunkt des Pride-Monats anschließen und von der Leipziger Straße über den Nollendorfplatz zum Brandenburger Tor ziehen.

Thematisch passend geht es für dieses Sammelsurium 103 Jahre zurück in die queere Vergangenheit Berlins. Wir verlegen uns vom Regenbogenkiez örtlich weg in Richtung Kreuzberg, ans südliche Ende der Friedrichstraße. Wo heute ein schlichtes Wohnhaus steht, befand sich im Jahr 1919 das beliebte „Apollo-Theater“, einstige Operettenbühne, zwischenzeitlich zum Kino umgerüstet – und am 28. Mai des Jahres Schauplatz der Uraufführung des weltweit ersten schwulen Films.

„Anders als die andern“ von Regisseur und Produzent Richard Oswald (1880-1963) thematisierte männliche Homosexualität und ihre juristisch-sozialen Rahmenumstände im damaligen Deutschland wie nie zuvor auf explizite, unverschlüsselte Weise. Die Handlung des Stummfilms befasst sich mit einem Violinisten, der eine verdeckte Beziehung zu seinem (volljährigen) Musikschüler führt. Von einem Mitwisser zunächst erpresst, wird er schließlich aufgrund des „Unzuchtparagraphen“ 175 angezeigt sowie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Gesellschaftlich isoliert und voller Scham nimmt sich der Protagonist mittels Gift das Leben.

Die Dramaturgie des im Selbstverständnis „sozialhygienischen“ Werkes reiht sich ein in die politischen Bemühungen von Oswalds Ko-Drehbuchautor, des Sexualwissenschaftlers und Arztes Magnus Hirschfeld (1868-1935). Als Mitgründer des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees (1897) hatte sich Hirschfeld bereits mehr als zwanzig Jahre lang für die Entkriminalisierung sexueller Handlungen zwischen Männern engagiert. Im Film nimmt er – sich selbst spielend – eine aufklärerische Rolle ein, indem er im Rahmen einer Vorlesung ein leidenschaftliches Plädoyer für Homosexuellenrechte hält; auch am Ende schließt sich noch einmal ein kurzer, aber emotionaler Appell an, gefolgt von einer Einstellung, in der eine Hand mit Stift den Paragraphen 175 im Strafgesetzbuch durchstreicht.

Möglich waren Produktion und Aufführung von Oswalds Arbeit geworden, weil kurzzeitig – zwischen 1918 und 1920 – im Deutschen Reich keinerlei Filmzensur existierte. In dieser Phase war generell eine Vielzahl von Aufklärungsfilmen, aber auch sexualisierter Unterhaltungsstreifen entstanden; die kontroverse Natur der politischen und moralischen Richtungsfindung in der Frühzeit der Weimarer Republik bildete sich somit in den Kinoprogrammen ab. Und auch in den Kinosälen, denn erwartbarerweise blieben Proteste und Auseinandersetzungen in den Aufführungen von „Anders als die andern“ nicht aus; der Film war in einer vergleichsweise hohen Zahl von 40 Kopien vertrieben worden, erreichte eine weite Bekanntkeit und sorgte für entsprechend intensive Debatten. Antisemit*innen, sogar aus dem homosexuellen Aktivismus, stürzten sich in ihrer Polemik auf Oswalds und Hirschfelds jüdische Wurzeln. Ein Pastor empfand den Anspruch Homosexueller, als gesunde Menschen wahrgenommen zu werden, als „dreist“. Bei einer Aufführung in den Biophon-Lichtspielen in Tiergarten musste die Vorstellung wegen eines Aufruhrs unterbrochen werden.

Auf Betreiben des Kinozensors und späteren NSDAP-Mitglieds Karl Brunner, der sich mit Richard Oswald bei einer Präsentation des Films ein erbittertes Wortgefecht geliefert hatte, wurde „Anders als die andern“ unter einer neuen Gesetzeslage im Jahr 1920 verboten. Die Kopien wurden vernichtet, so dass das Werk heute nicht vollständig erhalten ist. Magnus Hirschfeld versuchte 1927 im Rahmen seiner Dokumentation „Gesetze der Liebe“ eine neu geschnittene Quasi-Wiederveröffentlichung, jedoch vergeblich; es kam nicht einmal zu einer Aufführung. Auf nicht mehr zu rekonstruierende Weise gelangte eine Kopie dieser überarbeiteten Version aber in die Sowjetunion, wo sie in den 1970er Jahren wiederentdeckt und anschließend in Deutschland restauriert wurde. Das entstandene Fragment – weniger als die Hälfte des ursprünglichen Werkes – ist als Teil einer Themen-DVD des Münchener Filmmuseums kommerziell erhältlich.

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