#40: Wo der Kaiser zu Fuß… einkaufte
#40: Wo der Kaiser zu Fuß… einkaufte

#40: Wo der Kaiser zu Fuß… einkaufte

79 Einkaufszentren, oder nach rezenterem Sprachgebrauch auch Shopping Malls, zählte die taz im Jahr 2019 auf dem Berliner Stadtgebiet und mahnte deutliche Kannibalisierungserscheinungen im Marktgedränge an. Die Stadt ist sichtlich mit Konsumtempeln mehr als gesättigt, Centerbetreiber*innen reagieren auf Leerstände zunehmend mit neuen Konzepten, nutzen ihre Hallen lateral als kulturelle Veranstaltungsorte oder widmen frühere Ladenflächen in Büroetagen oder Freizeiteinrichtungen um.

Als Berliner Pionier der Idee, Kund*innen zwischen bunt gemischten Geschäftszeilen flanieren zu lassen, gilt verbreitet das 1965 eröffnete Europa-Center am Breitscheidplatz in Charlottenburg. Tatsächlich dürfte diese Wahrnehmung seiner Größe und der damals in West-Berlin zentralen Lage zuzuschreiben sein, denn Spandau war schon vier Jahre früher dran: Bereits im Oktober 1961 hatte die heutige Kaufmitte auf 5000 Quadratmetern Fläche am Siemensdamm ihren Betrieb aufgenommen. Sogar eine Filiale des Kaufhauses Hertie siedelte sich dort zwischenzeitlich als Anbau an und wurde Ende der 1990er Jahre von einem Möbelhaus abgelöst.

Aber auch Siemensstadt hat, historisch betrachtet, letztlich nur die Nase vorn, wenn mensch allein die Nachkriegszeit betrachtet. Noch älter, nämlich fast 150 Jahre, ist bzw. würde die Kaisergalerie in Mitte – wenn sie denn noch existierte: die mutmaßlich wirklich erste Shopping Mall nicht nur in Berlin, sondern deutschlandweit.

Die Kaisergalerie war eine überdachte Verbindungspassage zwischen Unter den Linden einerseits und der Ecke Friedrichstraße/Behrenstraße zum anderen. Errichtet wurde sie von 1869 bis 1873, angelehnt an bereits bestehende westeuropäische Vorbilder, in der architektonischen Richtung der Neorenaissance. Zur vielbeachteten Eröffnung am 22. März 1873 – dem 76. Geburtstag Kaiser Wilhelms I. – war der Gang 130 Meter lang, an die acht Meter breit und mit einem Glasdach in 16 Meter Höhe versehen. Die drei Stockwerke des säumenden Gebäudes boten Platz für an die sechzig Geschäfte des Einzelhandels und Gastronomiebetriebe. Außerdem gab es mehrere Festsäle, ein Hotel und bisher in Berlin nicht gekannte Touristenattraktionen.

Berühmt-berüchtigt wurde Castans Panoptikum, das erste deutsche Wachsfigurenkabinett, das von 1873 bis 1888 seine Räume in der Kaisergalerie hatte: Zu sehen gab es hier erwartungsgemäß Nachbildungen zeitgenössischer und historischer Persönlichkeiten, so war die gesamte aktuelle Hohenzollerndynastie dort verewigt worden. Aber das Panoptikum war auch eine bizarre Mischung aus Museum und Gruselkabinett, inklusive mittelalterlichem Folterkeller, die sich heute nur noch im Kontext des Zeitgeistes verstehen und ertragen lässt. Das gilt auch für die regelmäßigen „Völkerschauen“ – letztlich nichts anderes als Menschenzoos, in denen Vertragskräfte außereuropäischer Herkunft bei ihren Alltagsverrichtungen in einer nachgestellten, angeblich „gewohnten Umgebung“ zur Schau gestellt wurden. Anklang beim Publikum fand weiterhin, Menschen mit anatomischen Besonderheiten zu präsentieren – etwa von besonderem Groß- wie Kleinwuchs Betroffene, organisch verbundene Zwillinge und Personen mit extremer Adipositas.

Weniger ethische Probleme wirft im Vergleich rückblickend das Kaiserpanorama des Physikers August Fuhrmann auf. Dabei handelte es sich um eine Präsentation dreidimensionaler Fotografien, deren technisches Prinzip besonders im Hobbybereich immer noch gepflegt wird. Mittels stereoskopischer Aufnahmen, beidäugig durch Okulare betrachtet, erwachten ferne, unerreichbare Orte der Welt und Szenen des Zeitgeschehens den Betrachter*innen plastisch zum Leben. Bis zu 25 Personen konnten rund um das Panorama Platz nehmen, während die Motive maschinell und sequenziell durchgereicht wurden. Erst 1939 musste die einst sehr beliebte und erfolgreiche Einrichtung schließen, verdrängt durch das zwar (noch) zweidimensionale, aber inzwischen etablierte Medium Film. Das Inventar befindet sich heute im Besitz der Stiftung Stadtmuseum Berlin und war längere Zeit im Märkischen Museum ausgestellt; inzwischen befindet sich das Original unter Verschluss. Wer aber einen Nachbau sehen möchte, macht sich auf zum Stadtschloss: Ein solcher bildet Teil der Ausstellung Berlin Global des Humboldt-Forums.

Die Kaisergalerie selbst, erst 1931 grundrenoviert, überlebte nicht viel länger als das Kaiserpanorama. Nach Bombentreffern und Bränden im Zweiten Weltkrieg waren 1945 nur noch Ruinen übrig, die in den 1950er Jahren vollständig beseitigt wurden. Die DDR überbaute die leere Fläche erst 1987 mit einem Interhotel, heute privatisiert firmierend als Westin Grand.


Maplinks

* https://www.openstreetmap.org/#map=18/52.51583/13.38872 – Einstiger Standort der Kaisergalerie in Mitte

* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.50453&mlon=13.33767#map=17/52.50453/13.33767Europa-Center in Charlottenburg

* https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.53648&mlon=13.27502#map=18/52.53648/13.27502Kaufmitte in Spandau


Mehr Lesestoff

* https://berlingeschichte.de/bms/bmstext/9803novb.htm – Hans Aschenbrenner: 22. März 1873. Eröffnung der Kaisergalerie

* https://taz.de/Im-Wachsfigurenkabinett/!5606597/ – taz (13.7.2019): Im Wachsfigurenkabinett. Wie eine Freak-Show

* https://www.stadtmuseum.de/ausstellungen/kaiserpanorama – Stadtmuseum Berlin: Das Kaiserpanorama

* https://taz.de/Mall-Sterben-in-Berlin/!5642822/ – taz (30.11.2019): Mall-Sterben in Berlin. Kurz vor Ladenschluss

* https://leute.tagesspiegel.de/spandau/tipp/2019/02/12/71813/ – Tagesspiegel (12.2.2019): „Sensationell“ – Als Deutschlands erste Shopping Mall öffnete


Bildhaftes und Tönendes

* https://www.youtube.com/watch?v=S67a-MdmRpY – Berliner Abendschau (o. D.): Die Sonntagsfrage. Was war die Kaisergalerie?

* https://kurzelinks.de/siemensstadt – rbb Retro: Berliner Abendschau (26.10.1961): Einkaufszentrum Siemensstadt